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Stolperfalle Massenentlassungsanzeige

BAG-Urteil vom 13.02.2020, Az. 6 AZR 146/19: Massenentlassungsanzeige & der unionsrechtlich bestimmte Betriebsbegriff

Nach § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit eine sog. Massenentlassungsanzeige erstatten, bevor er in einem Betrieb eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Bei dieser Anzeige ist der für § 17 KSchG maßgebliche Betriebsbegriff der unionsrechtlichen Massenentlassungsrichtlinie (kurz MERL) zu berücksichtigen. Fehler hierbei führen zur Unwirksamkeit einer nach fehlerhafter Massenentlassungsanzeige ausgesprochenen Kündigung. In dem vom Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber den Betriebsbegriff verkannt und die Anzeige nicht für den richtigen Betrieb und deshalb bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit erstattet. Neben diesem Fall hat der 6. Senat auch über sieben gleichgelagerte Verfahren entschieden. Der 8. Senat folgte in einem weiteren Air Berlin-Fall am 27.02.2020 (Az. 8 AZR 215/19).

Sachverhalt

Air Berlin unterhielt an mehreren Flughäfen sog. Stationen. Diesen war Personal für die Bereiche Boden, Kabine und Cockpit zugeordnet. Der Kläger war bei Air Berlin als Pilot mit Einsatzort Düsseldorf beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis wurde nach der am 01.11.2017 erfolgten Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung, wie das aller anderen Piloten, wegen Stilllegung des Flugbetriebs Ende November 2017 gekündigt. Air Berlin erstattete die Massenentlassungsanzeige für den angenommenen „Betrieb Cockpit“ und damit bezogen auf das bundesweit beschäftigte Cockpit-Personal. Dieses Betriebsverständnis beruhte auf den bei Air Berlin tarifvertraglich getrennt organisierten Vertretungen für das Boden-, Kabinen- und Cockpit-Personal (vgl. § 117 Abs. 2 BetrVG). Die Anzeige erfolgte wegen der zentralen Steuerung des Flugbetriebs bei der für den Sitz der Air Berlin zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Der Kläger hat die Stilllegungsentscheidung bestritten. Der Flugbetrieb werde durch andere Fluggesellschaften (teilweise) fortgeführt. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft. Die Vorinstanzen hatten seine Kündigungsschutzklage abgewiesen.

Entscheidungsgründe

Nach Entscheidung des BAGs hatte die Revision Erfolg.

Nach dem unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG handele es sich bei den Stationen der Air Berlin um Betriebe im Sinne dieser Norm. Damit hätte die Massenentlassungsanzeige für die der Station Düsseldorf zugeordneten Piloten bei der dafür zuständigen Agentur für Arbeit in Düsseldorf erfolgen müssen. Dort traten bei typisierender Betrachtung die Auswirkungen der Massenentlassung auf, denen durch eine frühzeitige Einschaltung der zuständigen Agentur für Arbeit entgegen getreten werden soll. Die Anzeige hätte zudem nicht auf Angaben zum Cockpit-Personal beschränkt sein dürfen. Die nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG zwingend erforderlichen Angaben hätten vielmehr auch das der Station Düsseldorf etwa zugeordnete Boden-Personal und das dieser Station zugeordnete Kabinen-Personal erfassen müssen. Für den Betriebsbegriff der MERL sei ohne Belang, dass diese Beschäftigtengruppen kollektivrechtlich in andere Vertret-ungsstrukturen eingebettet waren.

Aufgrund der Unwirksamkeit der Kündigung nach § 17 Abs. 1 KSchG, § 134 BGB hatte der Senat nicht mehr darüber zu entscheiden, ob ein Betriebs(teil-)übergang auf eine andere Fluggesellschaft stattgefunden hat.

Praxishinweise

Das Urteil des BAG ist in der Sache konsequent und zeigt auf, dass in der Praxis besonders darauf geachtet werden muss, welche Begriffe den Normen zugrunde liegen.

Die unterschiedlichen Begriffe im Kündigungsschutz (Sozialauswahl, § 1 Abs. 2 KSchG oder wie hier Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG) und nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§§ 3, 4, 117 Abs. 2 BetrVG) sind strikt zu trennen.

Da § 17 KSchG auf der MERL beruht, sind die entsprechenden unionsrechtlichen Begriffsbestimmungen maßgeblich.

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der Betrieb im Rahmen von § 17 KSchG die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Ein Betrieb kann bereits dann vorliegen, wenn eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität besteht, „die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt″.

Daher können z.B. auch nach § 4 BetrVG unselbstständige Betriebsteile nach dem unionsrechtlichen Begriff im Rahmen der Massenentlassungsanzeige getrennt zu berücksichtigen sein.

In der Praxis ist Arbeitgebern deshalb dringend zu empfehlen, jeweils eine eigene Massenentlassungsanzeige für solche Einheiten bei der jeweilig zuständigen Agentur für Arbeit einzureichen. Darüber hinaus, insbesondere, wenn die Schwellenwerte in solchen Einheiten nicht erreicht werden, empfehlen wir, die Entlassungen bei der Massenentlassungsanzeige am Hauptsitz vorsorglich mit anzuzeigen. In einem Begleitschreiben sollten die Einzelheiten an die Agentur für Arbeit erläutert werden. Arbeitnehmer wiederum werden in vergleichbaren Situationen auf Basis der Rechtsprechung des BAG verstärkt auch auf solche „Nebensächlichkeiten“ wir die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige achten, wenn sie gegen eine Kündigung vorgehen.

Ellen Skiba
Rechtsanwältin

dkm Rechtsanwälte. Kanzlei für Arbeitsrecht.
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