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Betriebsvereinbarungsoffenheit im Lichte der BAG-Rechtsprechung

BAG, Urteil vom 18.03.2020 – 5 AZR 36/19

In zahlreichen Entscheidungen wurde durch das BAG bereits zur sog. „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ Stellung genommen. Soweit Rechtsprechung und juristische Literatur den Begriff der Betriebsvereinbarungsoffenheit verwenden, versteht man darunter die Möglichkeit, den Arbeitsvertrag so zu gestalten, dass er einer Abänderung durch betriebliche Regelungen – auch zulasten der Arbeitnehmer –  unterliegt (BAG, Urteil vom 05.03.2013 – 1 AZR 417/12). Voraussetzung sei lediglich, dass die zu ändernde Arbeitsbedingung Gegenstand einer allgemeinen Geschäftsbedingung (AGB) sei und außerdem ein kollektiver Bezug bestehe. Dann könne „aus Sicht eines verständigen und redlichen Arbeitnehmers nicht zweifelhaft sein, dass es sich bei den vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsbedingungen um solche handelt, die einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich sind“ (vgl. BAG a.a.O.).

Dies soll nach überwiegender Auffassung der Rechtsprechung nicht nur dann gelten, wenn der Arbeitsvertrag Änderungen durch Betriebsvereinbarung ausdrücklich zulässt, sondern auch ohne ausdrückliche Vereinbarung möglich sein (sog. „konkludente Betriebsvereinbarungsoffenheit“). Dieser Ansicht haben sich der 1. und 3. Senat angeschlossen und bestätigen die konkludente Betriebsvereinbarungsoffenheit u.a. bei betrieblicher Übung (BAG, Urteil vom 23.02.2016 – Az. 3 AZR 3 44/14), den Bezug einer Jubiläumszuwendung (BAG, Urteil vom 24.10.2017 – 1 AZR 846/15) oder individualrechtliche betriebliche Zusagen zur Altersvorsorge aufgrund einer Gesamtzusage (BAG, Urteil vom 10.03.2015 – 3 AZR 56/14). Das Günstigkeitsprinzip, wonach die für den Arbeitnehmer günstigere Regelung greift, wenn sich Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag widersprechen, gilt dann nicht. Während eine solche ausdrückliche Regelung mit dem Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag unstreitig zulässig ist, herrscht bei der Annahme einer konkludenten Betriebsvereinbarungsoffenheit unter den Senaten des BAGs Uneinigkeit.

Auch wenn der 4. Senat des BAGs grundsätzlich die Möglichkeit einer konkludenten Betriebsvereinbarungsoffenheit bestätigt, ist dieser deutlich zurückhaltender bei einer solchen Annahme. In einem Fall (BAG, Urteil vom 11.04.2018 – 4 AZR 119/17) entschied der 4. Senat, dass zumindest dann eine konkludente Betriebsvereinbarungsoffenheit abzulehnen sei, wenn die Arbeitsvertragsparteien in einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag vereinbaren. Der 4. Senat stellte ferner klar, dass eine Betriebsvereinbarungsoffenheit vertraglich ausgeschlossen werden kann, sofern der Arbeitsvertrag ergibt, dass ungünstigere Regelungen nur nachrangig gelten sollen. Unerlässlich für die Annahme einer konkludenten Betriebsvereinbarungsoffenheit ist jedenfalls, dass AGB vorliegen, aus denen sich der kollektive Bezug und der damit verbundene Vorbehalt der späteren Änderung durch eine Betriebsvereinbarung ergeben. AGB sind nach § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB „alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt.“ In der Praxis kann man davon ausgehen, dass diese Voraussetzungen vorliegen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag formuliert. Im Zuge dieser Diskussion war die Entscheidung des BAGs am 18.03.2020 mit Spannung erwartet worden, da man sich weitere Klarstellungen oder Prämissen zu dieser Thematik erwartete. Der Entscheidung lag verkürzt folgender Sachverhalt zugrunde:

Entscheidung des BAGs vom 18.03.2020 – 5 AZR 36/19

Zwischen einem tarifgebundenen Arbeitgeber und seinem Mitarbeiter im Außendienst bestand Streit über die Vergütung von Fahrtzeiten. Der Kläger war als Servicetechniker im Außendienst bei einem Unternehmen tätig, das aufgrund der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden ist. Diese Tarifverträge finden auf der Grundlage einer dynamischen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Bei der Beklagten galt eine Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit aus dem Jahr 2001, welche die Reisezeit zum ersten und vom letzten Kunden erst zur Arbeitszeit zählt, wenn sie 20 Minuten übersteigen. Mit seiner Klage begehrte der Kläger Vergütung bzw. Anrechnung auf das Arbeitszeitkonto von 68 Stunden und 40 Minuten Fahrtzeiten.

Das BAG hielt die Klage – anders als die Vorinstanzen – für begründet und zog sich elegant aus der Affäre. Konkrete Ausführungen zur Betriebsvereinbarungsoffenheit musste das höchste deutsche Arbeitsgericht nicht machen, da es vorliegend bereits an einer wirksamen Betriebsvereinbarung fehlte. Vorliegend sah das BAG die Betriebsvereinbarung wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG als unwirksam an und sprach dem Kläger die fehlenden Stunden zu, da es sich bei der Fahrtzeit um abschließend tarifvertraglich geregelte, vergütungspflichtige Arbeitszeit handelte.

Zusammenfassung

Unsicherheiten in der Praxis sind meistens darauf zurückzuführen, dass zwischen den Parteien keine konkreten Regelungen getroffen werden. Die Betriebsvereinbarungsoffenheit kann explizit – in einer Betriebsvereinbarung oder arbeitsvertraglich – ausgeschlossen oder für anwendbar erklärt werden. Wichtig sind klare, verständliche Regelungen zwischen dem Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmern. Wollen Arbeitnehmer und Betriebsräte eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ausschließen, so kann dies mit einem Zusatz in der Betriebsvereinbarung oder im Arbeitsvertrag geregelt werden. Die Möglichkeit, Arbeitsbedingungen – auch zulasten der Arbeitnehmer – einheitlich durch Betriebsvereinbarung zu regeln, geht zwangsläufig mit der Stärkung von Betriebsräten einher. Für Arbeitgeber bietet sich spiegelbildlich die Möglichkeit, durch entsprechende Regelungen eine Vereinheitlichung bzw. Harmonisierung der Arbeitsbedingungen herbeizuführen.

Thomas Frisch
Rechtsanwalt

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