www.dkm-rechtsanwaelte.de

Sind Arbeitgeber zur Führung eines Arbeitszeiterfassungssystems verpflichtet?

ArbG Emden, Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19 und ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20

Mit den vorliegenden Entscheidungen urteilte das Arbeitsgericht Emden, dass Arbeitgeber, infolge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019, Rs. C-55/18 [COOO]), zur Führung eines Arbeitszeiterfassungssystems verpflichtet wären.

Diese Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung ergäbe sich aus einer unmittelbaren Anwendung von Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta (GrCh). Zudem handele es sich, bei der Verpflichtung des Arbeitgebers, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, auch um eine (arbeits-)vertragliche Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB (ArbG Emden, Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19).

Zudem werde durch das Urteil des EuGH die Darlegungs- und Beweislastverteilung im Rechtsstreit über Überstunden und Vergütung modifiziert und es würde auch aus der europarechtskonformen Auslegung des § 618 Abs. 1 BGB eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer folgen (vgl. ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20).

Wegen grundsätzlicher Bedeutung wurde in beiden Verfahren die Berufung gesondert zugelassen.

Sachverhalt

Im ersten Verfahren (Az. 2 Ca 94/19) stritten die Parteien über den zeitlichen Umfang der vom Kläger erbrachten Arbeitsleistungen und die daraus resultierende Vergütungsansprüche. Der Kläger hat zur Begründung seiner Klage eigene Aufzeichnungen über die von ihm geleisteten Stunden vorgelegt. Die Beklagte wandte ein, dass die Stundenerfassung geleisteter Stunden gemeinsam mit dem Kläger in einem sog. Bautagebuch erfolgt sei, in dem Arbeitsbeginn und Arbeitsende eingetragen worden seien.

Im zweiten Verfahren (Az. 2 Ca 144/20) stritten die Parteien um Überstundenvergütung. Gemäß des Arbeitsvertrages war mit der Vergütung die geleistete Arbeitszeit sowie etwaige Mehrarbeit abgegolten. Die Klägerin hatte mit einer von der Beklagten zur Verfügung gestellte Software ihre „Kommt“-, „Geht“- und „Pausen“-Zeiten erfasst. Die Klägerin behauptete, die geschuldete Arbeitsleistung sowie 1001 Überstunden erbracht zu haben. Die Beklagte wandte ein, dass die Klägerin im Rahmen von Vertrauensarbeitszeit beschäftigt gewesen und eine Kontrolle der von der Klägerin erfassten Stunden nicht erfolgt sei. Die Klägerin sollte selbst auf die Einhaltung der Arbeitszeit achten und etwaige Überstunden selbstständig egalisieren. Eine Anordnung, Duldung oder Billigung etwaiger Überstunden habe es durch die Beklagte jedenfalls nicht gegeben.

Entscheidungsgründe

Das ArbG Emden verurteilte den jeweiligen Arbeitgeber zur Zahlung der eingeklagten (Überstunden-)Vergütung.

Zur Begründung führte das ArbG jeweils aus, dass im Vergütungs- bzw. Überstundenprozess eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bestehe. Auf einer ersten Stufe hat der Arbeitnehmer zunächst vorzutragen und darzulegen, an welchen Tage dieser von wann bis wann Arbeit geleistet hat. Dies kann unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen des Arbeitnehmers geschehen. Der Arbeitgeber hat sodann substantiiert vorzutragen und zu beweisen, welche Arbeiten dem Arbeitnehmer wann übertragen worden sind und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann den Weisungen ggf. nicht nachgekommen ist bzw. welche geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber nicht zurechenbar, durch Anordnung, Duldung oder konkludent, veranlasst worden sind. In beiden Fällen sei der Arbeitgeber dem klägerischen Vortrag nicht ausreichend entgegengetreten. Dies allein dadurch, dass der jeweilige Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Führung eines Arbeitszeiterfassungssystems nicht nachgekommen ist und damit im Prozess nicht „objektiv“, „verlässlich“ und „zugänglich“ aufgezeichnete Arbeitszeiten des Klägers hat vorlegen können.

Die arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Führung und Kontrolle eines Arbeitszeiterfassungssystems folge aus einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 241 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 31 Abs. 2 GrCh i.V.m. der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) bzw. des § 618 Abs. 1 BGB und sei zudem eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht.

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) dahingehend auszulegen, dass sich aus dieser die Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung entnehmen lässt. Zwar seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) gemäß der Auslegung des EuGH umzusetzen und diese müssen die Arbeitgeber (gesetzlich) verpflichten, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Allerdings obliegt es auch den mitgliedstaatlichen Gerichten, im Sinne einer wirksamen Umsetzung des Unionsrechtes (sog. effet utile-Grundsatz), dass das von der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird. Daher sei § 241 Abs. 2 BGB dahingehend unionsrechtskonform auszulegen, dass die aus der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) folgende Verpflichtung zur Schaffung eines Arbeitszeiterfassungssystems auch eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht darstellt. Auch aus einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 618 Abs. 1 BGB folge eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer (vgl. ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20). Des Weiteren treffe die Verpflichtung zur Schaffung eines Arbeitszeiterfassungssystems die Arbeitgeber unmittelbar, da nach Art. 31 Abs. 2 GrCh u.a. jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit hat (vgl. ArbG Emden, Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19).

Dem stünde auch nicht § 16 Abs. 2 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) entgegen. Hiernach sind Arbeitgeber bislang verpflichtet, die über 8 Stunden werktäglich hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen und diese für mindestens zwei Jahre aufzubewahren. Eine Verpflichtung zur Führung eines Arbeitszeiterfassungssystem scheitere nämlich nicht daran, dass der deutsche Gesetzgeber durch die Schaffung des § 16 Abs. 2 ArbZG ganz eindeutig keine allgemeine Aufzeichnungspflicht gewollt hatte. § 16 Abs. 2 ArbZG wurde zwar vom deutschen Gesetzgeber in Umsetzung der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) geschaffen, sei jedoch wegen Verstoßes gegen das Unionsgrundrecht aus Art. 31 Abs. 2 GrCh „unangewendet“ zu lassen (vgl. ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20).

Da jeden Arbeitgeber die Verpflichtung zur Führung und Kontrolle eines Arbeitszeiterfassungssystems treffe, könne der Arbeitgeber jederzeit Kenntnis von geleisteten Überstunden der Arbeitnehmer nehmen. Daher sei es zudem gerechtfertigt, dass die bislang vom Bundesarbeitsgericht geforderte positive Kenntnis des Arbeitgebers für die Duldung der Leistung etwaiger Überstunden nicht mehr erforderlich sei (vgl. ArbG Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20).

Praxishinweise

Den beiden Entscheidungen des ArbG Emden ist nicht zuzustimmen; diese überzeugen nicht.

Mit den Entscheidungen hat das ArbG eine Verpflichtung zur Führung und Kontrolle eines Arbeitszeiterfassungssystems auferlegt, die sich so – jedenfalls bislang – nicht im Gesetz finden lässt.

Zwar ist richtig, dass der EuGH zu der Ansicht gelangt ist, dass nach der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Führung eines Arbeitszeiterfassungssystems folgt. Allerdings finden europäische Richtlinien grundsätzlich keine unmittelbare Anwendung in den Mitgliedsstaaten, sondern benötigen einen mitgliedsstaatlichen Umsetzungsakt (vgl. Art. 288 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]). Hier ist nun der deutsche Gesetzgeber am Zug, der eine solche arbeitgeberseitige Verpflichtung, wie sie gemäß des EuGH aus der Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie folgt, bislang nicht geschaffen hat.

Die vom ArbG hergeleitete Rechtsfolge überzeugt indes nicht. Weder aus einer unmittelbaren Anwendung der EU-Grundrechte, noch aus einer unionsrechtskonformen Auslegung der § 241 Abs. 2 BGB bzw. § 618 Abs. 1 BGB lässt sich unseres Erachtens eine arbeitsgeberseitige Verpflichtung zur Führung und Kontrolle eines Arbeitszeiterfassungssystem entnehmen. § 16 Abs. 2 ArbZG beschränkt abschließend die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit auf die über werktäglich acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit und steht somit einer umfassenden Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit entgegen.

Auch überzeugt nicht, dass sich durch das Urteil des EuGH die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von Überstunden- bzw. Vergütungsprozessen modifiziert habe. Arbeitszeiterfassungssysteme dokumentieren die tatsächlich geleistete oder noch zu leistende Arbeitszeit. Hieraus abzuleiten, dass der Arbeitgeber die Leistung von Überstunden ohne positive Kenntnis dieser duldet, geht zu weit, da dies dem Arbeitgeber einseitig Überstunden „aufdrängt“.

Dennoch hat das Urteil des EuGH eine große Ausstrahlungswirkung. Es ist damit zu rechnen, dass der deutsche Gesetzgeber hier nachbessern und eine arbeitgeberseitige gesetzliche Verpflichtung zur Führung und Kontrolle eines Arbeitszeiterfassungssystem im Arbeitszeitgesetz schaffen wird. Arbeitgeber sind daher gut beraten sich auf die Einführung einer solchen Verpflichtung zumindest vorzubereiten. Wer zudem eine Umstellung oder Erweiterung seiner informationstechnologischen Systeme plant, dem ist zu empfehlen, bereits jetzt ein System zur Arbeitszeiterfassung – ggf. unter Berücksichtigung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats – zu implementieren.

Elias Klich
Rechtsanwalt

dkm Rechtsanwälte. Kanzlei für Arbeitsrecht.
Wolfratshauser Straße 50
81379 München

+49 89 242166-0

buero@dkm-rechtsanwaelte.de
www.dkm-rechtsanwaelte.de


Download als PDF