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Präventionsverfahren und Kündigung von Schwerbehinderten

Landesarbeitsgericht Köln, 6 SLa 76/24, Urteil vom 12.09.2024

Bei der Kündigung von Schwerbehinderten ist eine Vielzahl von Dingen zu beachten. Neben dem Betriebsrat (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG) muss zusätzlich auch die Schwerbehindertenvertretung angehört werden (§ 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX). Weiterhin muss nach Ablauf der Wartezeit von sechs Monaten auch das Integrationsamt der Kündigung vorher zustimmen (§§ 168, 174 SGB IX). Sofern dies vom Arbeitgeber missachtet wird, ist eine ausgesprochene Kündigung automatisch unwirksam. Nach § 167 Abs. 1 S. 1 SGB IX hat der Arbeitgeber vor einer Kündigung überdies ein Präventionsverfahren durchführen. Auch wenn ein Verstoß hiergegen nach allgemeiner Ansicht nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, kann ein solcher jedoch mittelbar die Unwirksamkeit der Kündigung bedingen, wie ein aktuelles Urteil des LAG Köln zeigt.

Sachverhalt:

Der 1984 geborene Kläger verfügte über einen Grad der Behinderung von 80 und war bei der beklagten Arbeitgeberin seit dem 01.01.2023 im Bauhof beschäftigt. Die Arbeitsleistung stellte die Arbeitgeberin jedoch nicht zufrieden. Am 22. Juni, also noch kurz vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit, sprach die Beklagte daher die ordentliche Kündigung aus, die im Grunde alle Formalia einhielt. Allerdings hatte die Beklagte zuvor kein Präventionsverfahren gem. § 167 Abs. 1 S. 1 SGB IX durchgeführt.

Entscheidungsgründe:

Zunächst stellte das LAG Köln fest, dass sich der Kläger weder auf allgemeinen Kündigungsschutz nach § 1 Abs. 2 KSchG noch auf Sonderkündigungsschutz nach §§ 168, 174 SGB IX berufen konnte, weil das Arbeitsverhältnis noch nicht länger als sechs Monate bestand. Das LAG prüfte jedoch weiter, ob die Kündigung wegen der Behinderung erfolgte und daher wegen Verstoßes gegen das  Benachteiligungsverbot aus § 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX unwirksam war. Nach Ansicht des LAG liegt hierin das Einfallstor des Präventionsverfahren gem. § 167 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Sollte dieses trotz bestehender Pflicht nicht durchgeführt worden sein, so könne dies nach § 22 AGG die Vermutung begründen, dass die Kündigung wegen der Behinderung erfolgte: Die Kündigung wäre dann unwirksam. Maßgeblich war im vorliegenden Fall somit die Frage, ob ein Präventionsverfahren auch schon vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit durchzuführen war. Das LAG und die Vorinstanz bejahten dies und wendeten sich damit ausdrücklich gegen die  Rechtsprechung des BAG zur Vorgängernorm des § 84 SGB IX (vgl. BAG, Urteil vom 21.04.2016 – 8 AZR 402/14). Denn die sechsmonatige Wartezeit (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) umfasse gerade nur den Sonderkündigungsschutz aus Kapitel 4 („Vorschriften dieses Kapitels“), nicht aber die sonstigen Pflichten des Arbeitgebers aus Kapitel 3 und damit auch nicht das Präventionsverfahren.  Weil ein solches im vorliegenden Fall jedoch ausgeblieben war, stellte das LAG Köln fest, dass die Benachteiligungsvermutung aus § 22 AGG eingreife. Dem klagenden Arbeitnehmer half dies jedoch trotzdem nicht weiter: Anders als die Vorinstanz sah es die Vermutung aufgrund des Sachvortrags des Arbeitgebers und der gegebenen Einzelfallumstände im vorliegenden Fall als widerlegt an. Weil die Kündigung damit auch nicht wegen der Behinderung des Klägers erfolgte, wies es die Kündigungsschutzklage des Klägers unter Abänderung des Urteils der Vorinstanz ab.

Fazit und Praxishinweise:

Das LAG Köln und die Vorinstanz stellen sich ausdrücklich gegen die aktuelle Rechtsprechung des BAG, welche ein Präventionsverfahren erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit für erforderlich hält. Es bleibt abzuwarten, ob und wie das BAG über diese Grundsatzfrage erneut entscheiden wird, denn die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde zugelassen. Für die Praxis heißt das in dieser aktuellen Schwebesituation Folgendes: Sicherheitshalber sollten Arbeitgeber bei Kündigungen von Schwerbehinderten schon in den ersten sechs Monaten ein Präventionsverfahren durchführen, um ein Eingreifen der Benachteiligungsvermutung des § 22 AGG zu verhindern. Arbeitnehmer hingegen sollten sich bei Verhandlungen auf das nicht durchgeführte Präventionsverfahren berufen.

Felix Kratz 
Rechtsanwalt I Fachanwalt für Arbeitsrecht I Partner

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