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Chef-SMS muss nicht (zu jeder Zeit) gelesen werden!

LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.09.2022 – Az. 1 Sa 39 öD/22

I. Einleitung

Studien zeigen, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt einerseits neue Möglichkeiten eröffnet, Arbeitszeiten flexibel an die jeweiligen Bedürfnisse anzupassen, sich andererseits jedoch die Grenzen von Arbeit und Freizeit immer weiter auflösen. Gerade die Frage, wann und wo dienstliche Mails, WhatsApp Nachrichten oder SMS gelesen werden dürfen, sollen oder müssen, beschäftigt viele Unternehmen und Mitarbeitende. Einige Unternehmen haben bereits in den vergangenen Jahren Regelungen geschaffen, um Arbeit und Freizeit wieder deutlicher zu trennen, Belastungen zu reduzieren und Arbeitszeitthemen in den Griff zu bekommen. So führten beispielsweise VW und Daimler technische Lösungen ein, um die digitale Arbeit nach Dienstschluss oder im Urlaub zu begrenzen bzw. zu sperren und damit ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ zu gewährleisten. Andere Unternehmen arbeiten mit Betriebsvereinbarungen oder Leitfäden, Standard sind solche Lösungen jedoch nicht, wie eine aktuelle Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein zeigt.

II. Sachverhalt

Dem arbeitsgerichtlichen Verfahren lag ein Streit zwischen einem Notfallsanitäter und seiner Arbeitgeberin u. a. über den Stand des Arbeitszeitkontos zugrunde. Auf das Arbeitsverhältnis finden der TVöD-VKA sowie eine Betriebsvereinbarung über Arbeitszeitgrundsätze Anwendung. Die Mitarbeitenden der Beklagten können über das Internet den aktuellen Ist-Dienstplan einsehen. Am 06.04.2021 endete der Dienst des Klägers um 19:00 Uhr. Zu jenem Zeitpunkt war seit dem 04.04.2021 für den 08.04.2021, den nächsten Arbeitstag des Klägers, im Ist-Dienstplan ein sog. unkonkreter Springerdienst eingetragen. Gemäß den Regelungen bei der Beklagten hätte der Kläger sich zum Dienstbeginn des unkonkreten Springerdienstes nicht an einem zugewiesenen Dienstort einfinden, sondern lediglich telefonisch um 7:30 Uhr von zu Hause aus seine Einsatzfähigkeit mitteilen müssen. Am 07.04.2021 um 13:20 Uhr teilte die Beklagte dem Kläger für den 08.04.2021 einen Dienst in der Tagschicht in der Rettungswache P. mit einem Dienstbeginn um 6:00 Uhr zu. Sie trug dies in den Ist-Dienstplan ein. Die Beklagte versuchte erfolglos, den Kläger auf seinem privaten Mobiltelefon telefonisch zu erreichen. Die Beklagte übersandte dem Kläger deshalb um 13:27 Uhr eine SMS zur Information über die Dienstplanänderung. Der Kläger erschien am 08.04.2021 nicht um 6:00 Uhr in der Rettungswache P. Zum Dienst, sondern meldete sich telefonisch um 7:30 Uhr von zu Hause aus zum Dienst. Der Kläger wurde daraufhin nicht zum Dienst eingesetzt. Die Beklagte bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog dem Kläger 11 Stunden von seinem Arbeitszeitkonto ab. Der Kläger verlangte mit seiner Klage die Gutschrift von 11 Arbeitsstunden auf seinem Arbeitszeitkonto für den 08.04.2021. Er trug unter anderem vor, er habe nach seinem Dienstende am 06.04.2021 und der Meldung zum Dienst am 08.04.2021 um 7:30 Uhr nicht in den Ist-Dienstplan geschaut und damit auch die Änderung nicht gesehen. Überdies habe er weder die Anrufe am 07.04.2021 gehört noch habe er die SMS gelesen. Er habe hierzu in seiner Freizeit auch keine Verpflichtung gehabt.

III. Entscheidung

Während der Kläger erstinstanzlich noch unterlag, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) zu seinen Gunsten. Die Beklagte habe sich mit der Annahme der Dienste des Klägers in Verzug befunden, sodass die Voraussetzungen eines Entgeltfortzahlungstatbestandes nach § 615 S. 1 BGB gegeben waren. Der Kläger habe seine Dienste am 08.04.2021 mit dem telefonischen Angebot um 7:30 Uhr vertragsgerecht angeboten. Zwar könne die Beklagte grundsätzlich über ihr Weisungs-bzw. Direktionsrecht veränderte Dienste zuweisen. Ein solches Leistungsbestimmungsrecht müsse als einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung dem Empfänger jedoch zu gehen, um wirksam zu werden. Ein solcher Zugang liegt jedoch erst dann vor, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist. Das LAG ging zwar davon aus, dass die SMS auf dem Handy des Klägers eingegangen war, mit der Kenntnisnahme des Inhalts der SMS durfte die Beklagte jedoch nicht vor 7:30 Uhr des folgenden Tages rechnen. Die Beklagte habe unter normalen Umständen nicht davon ausgehen dürfen, dass der Kläger die SMS vor 7:30 Uhr am 08.04.2021 zur Kenntnis nimmt; der Kläger sei nicht verpflichtet, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Arbeitszeit zu unterbrechen. Die Beklagte verlange vom Kläger eine Arbeitsleistung, wenn sie von diesem erwartet, eine dienstliche SMS zu lesen oder sich über Zeit und Ort seiner Arbeitsaufnahme im Internet zu informieren. Der Kläger sei jedoch nicht zur Entgegennahme eines Telefonats oder zum Lesen einer dienstlichen SMS in der Freizeit verpflichtet, da er ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ in seiner Freizeit habe. Dem stehe auch nicht der zeitlich Minimalaufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden ist, entgegen. Auch sei das Verhalten des Klägers nicht als treuwidrig zu bewerten.

IV. Fazit und Praxishinweise

Das Urteil ist nachvollziehbar und konsequent. Die Freizeit kann von Mitarbeitenden als Ausdruck ihres Persönlichkeitsrechts frei gestaltet werden, wozu auch gehört, selbst zu bestimmen, für wen sie wann, wie und wo erreichbar sind. Es mag Situationen geben, in denen ausnahmsweise eine Kontaktaufnahme in der Freizeit dringend geboten ist. Ein umsichtiger Umgang mit solchen besonderen Situationen sowohl seitens des Unternehmens als auch der Mitarbeitenden sollte selbstverständlich sein. Darüber hinaus jedoch sind bedarfsgerechte organisatorische Maßnahmen und Regelungen gefragt: U. a. Rufbereitschaft sowie eine planvoll-vorausschauende Dienstplangestaltung sind geeignet, die Einsatzplanung verbindlich und gleichzeitig flexibel zu gestalten.

Felix Kratz
Rechtsanwalt I Fachanwalt für Arbeitsrecht I Partner

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