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Zeitenwende? Kein Individualschutz bei Massenentlassungsanzeige

EuGH, Urteil vom 13.07.2023, Az. C-134/22

Arbeitnehmer werden nicht durch die Verpflichtung des Arbeitgebers geschützt, den Behörden in einem frühzeitigen Stadium über beabsichtigte Massenentlassungen Informationen zuzuleiten. Die Vorschrift dient lediglich den Behörden selbst frühzeitig Informationen über die geplanten Entlassungen zu erhalten, um gezielt hierauf reagieren und ggf. Vermittlungs- und Qualifizierungsmaßnahmen durchführen zu können. Dies hat der Europäische Gerichtshof nun auf Vorlage des Bundesarbeitsgericht entschieden.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentliche Beendigungskündigung nach Insolvenz der Arbeitgeberin (G GmbH). Der Kläger des Ausgangsverfahrens war seit 1981 bei der G GmbH beschäftigt.

Am 1. Oktober 2019 eröffnete das Insolvenzgericht auf Antrag der G GmbH das Insolvenzverfahren. Der Betriebsrat hatte bereits nach Konsultation in seiner abschließenden Stellungnahme zum 22. Januar 2020 erklärt, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden.

Am 23. Januar 2020 wurde die beabsichtigte Massenentlassung im Einklang mit dem Kündigungsschutzgesetz und Art. 3 der Richtlinie 98/59 der Agentur für Arbeit Osnabrück angezeigt. Mit Zugang zum 28.Januar 2020 wurde dem Kläger die Kündigung seines Arbeitsvertrages mit der G GmbH zum 30. April.2020 mitgeteilt.

Der Kläger erhob beim zuständigen Arbeitsgericht Klage auf Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst worden sei, gestützt darauf, dass die Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung vom 17. Januar 2020 an die zuständige Agentur für Arbeit, die sowohl nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 als auch nach § 17 Abs. 3 KSchG vorgeschrieben sei und eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassung darstelle, unterblieben sei.

Der Beklagte des Ausgangsverfahrens machte geltend, die fragliche Entlassung sei wirksam, da § 17 Abs. 3 KSchG, anders als andere Bestimmungen des § 17 KSchG, nicht den Schutz der von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer oder die Vermeidung von Entlassungen bezwecke. Die darin vorgesehene Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung an die zuständige Agentur für Arbeit habe nur den Zweck, diese über die geplanten Entlassungen zu informieren.

Entscheidungsgründe

Die ersten beiden Instanzen verlor der Kläger, weshalb Revision zum BAG eingelegt wurde. Das BAG sieht darin, dass die Agentur für Arbeit keine Abschrift der an den BR im Rahmen des Verfahrens zu dessen Konsultation gerichteten Mitteilung erhalten habe, einen Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG. Allerdings sehe weder nationales Recht noch die EU-Richtlinie zu Massenentlassungen eine ausdrückliche Sanktion für diesen Verstoß vor. Nach bisheriger Rechtsprechung des BAG führen Verstöße des Arbeitsgebers gegen die Pflichten aus den Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB. Fraglich ist, ob dies auch für einen Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG gilt.

Der EuGH verweist darauf, dass die Bestimmung des Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der RL 98/59 zu Teil II („Information und Konsultation“) gehört und gerade nicht zu Teil III („Massenentlassungsverfahren“). Die Übermittlung der Informationen erfolge daher in einem Stadium, in dem Massenentlassungen lediglich beabsichtigt sind und in dem das Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter erst beginnt und noch nicht abgeschlossen ist.

Deshalb sei der wesentliche Unterschied hier, dass die in Art. 2 Unterabs. 3 der RL 98/59 vorgesehene Übermittlungspflicht der Behörde lediglich ermöglichen soll, ihre weiteren Befugnisse wirksam auszuüben. Die Vorschrift habe jedoch nicht den Zweck, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren, weshalb keine Nichtigkeit der Kündigungen gegeben ist.

Praxishinweise und Fazit

Der EuGH stellt nun klar, dass § 17 Abs. 3 S.1 KSchG nicht Schutzgesetz i. S. d. § 134 BGB ist. Eine unterlassene Zuleitung der Mitteilung an die Agentur für Arbeit führt daher nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.

Es bleibt abzuwarten, ob das BAG einige der aufgrund dieser Entscheidung zunächst ausgesetzten Verfahren, welche andere Fehler im Massenentlassungsverfahren zum Inhalt haben, z. B. eine nicht ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs.1 KSchG, ebenfalls dem EuGH vorlegen wird. Angekündigt wurde bereits, auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung die bisherige Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Kündigungen überprüfen zu wollen.

Ansgar Lederer
Rechtsanwalt I Fachanwalt für Arbeitsrecht

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